Spielzeitheft 2020, Risodruck auf Umweltpapier

Die Entstehungsgeschichte des NIE Theaters in neun Seiten Text zusammengefasst.

Ein Nachruf auf den Keller in Neukölln, 2020.
Auf den hellgelben Wänden der Durchfahrt zum zweiten Hinterhof der Karl-Marx-Straße 58 in Berlin-Neukölln steht in Großbuchstaben das Wort IDIOT geschrieben.
Wir machen ein paar Umdrehungen, halten an, als A. mir mehrmals in unregelmäßigen Abständen auf den Unterarm kloppt, damit die Kamera wackelt, als sein Raumschiff startet und ich dabei merke, wie dünn mein Unterarm eigentlich ist. Wir machen noch ein paar Umdrehungen, und stehen im rammelvollen Foyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: ich höre ihn fragen,
„Sechs bis acht Wochen Proben auf der großen Bühne, wie lässt sich das organisieren?“
Stopp. Kurze grundlegende Informationen vorab: Nach der Besetzung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz findet eine unübersichtliche Verstrebung der einzelnen Protagonisten statt. Es gibt viele verschiedene Arbeitsgruppen, die sich unabhängig voneinander in unterschiedlichen Bars treffen. Informationen sprechen sich durch Münder mit doppelter Anstellung.
Das in den sechs Tagen der Besetzung entwickelte soziale Konstrukt, wird von vielen verschiedenen Enden fixiert, umsortiert, betitelt, und gefesselt. Es wird geschrien. Nach der Räumung gibt es jeden Montag Essen in der Potse. Reden & Essen. Es wird gezankt. Wie soll es weiter gehen? Arbeitsgruppen stellen sich vor. Die Montage gelten als eine öffentliche Veranstaltungen, die Potse als Ort, an dem man sich nach der Entzerrung Seitens der Polizei wieder zusammenfinden kann. Die Köpfe glühen, die Münder sprühen, es wird geraucht und um Anerkennung gebuhlt. Kollektive Intendanz meets Club Culture. Wo. Bleibt. Das. Parlament. Der. Wohnungslosen?! Milo Rau kam nicht zu der Besetzung. Oktoberrevolution an der UdK. Fahnen morgen weglassen. Biologisch süß. Fiktive Gefangennahme. Unsere Sache. Öffentliche Accounts – Zugang – Regelung. Am Sonntag wird dieses wöchentliche Montagsplenum vorbereitet. Ich glaub wir müssen uns einfach darauf einlassen eine große Masse zu sein und die auch einfach mal miteinander redet und die auch miteinander irgendwie in Kontakt tritt, sage ich an einem solchen Orga Orga Treff in der Hoffnung, der Versuch, Zukunft zu planen und Diskursstrukturen vorzugeben, würde mit versammelten Erwartungen an einen scheinbaren Konsens ausgeschieden werden. Soweit die Nachrichten von gestern. Weiter geht es mit der Geschichte des NIE THEATERS.​​​​​​​
Das Folgende ist ein Versuch, meine Geschichte zu einem Ort in Berlin-Neukölln zu fassen und zu sortieren, um sie mit euch teilen zu können. Ihr mögt vielleicht gehört haben von einem Club, ein Moloch, eine Höhle, zusammengehalten von triefenden Kellerwänden, genannt der Keller. Ich bin kein begeisterter Clubgänger, aber ich muss mir doch eingestehen, dass auf diese Weise mitunter eine der wenigen Möglichkeiten eröffnet wird, neben dem laufenden Clubbetrieb alles andere aufzubauen.
“Also ich wär glücklich, wenn ich mein eigenes Brot backen könnte.“ – Kannst du doch machen. „Alleine?! Bin ich doch nicht glücklich damit. Ich will in der Gemeinschaft mein eigenes Brot backen.“ … Ja, irgendjemand musses ja machen.
Neben dem besagten Kellerclub begrüßen dich mit weißer Farbe überpinselte Backsteine in weiteren 160 Quadratmetern. Eine noch unerforschte Insel, ein erster weißer Fleck auf der Landkarte – seit sehr langer Zeit. Innerhalb von Tagen wird der leere Raum zu einem Theater umfunktioniert. 2 große Räume – Bühne und Zuschauerraum –, 3 Studios, Verschwörungszentrale, Teestube, Kostümfundus und Technikraum. Keine Repräsentation der eigenen Ränge. Ein Kern zwischen den Zähnen. Das NIE THEATER geht einen Deal ein: Die Wände sollen weiß bleiben & 1 Euro Miete pro Monat. Gezahlt wird mit – Theater.
Der Winter bricht ein, die Luft ist feucht, die Heizlüfter rar. Fellmäntel werden eine Überlebensstrategie. Das erste konspirative Treffen am 06/01/18 beginnt. Ich halte mich zurück und schreibe Protokoll. Ich fühle mich vorbereitet, egal auf was, es scheint alles möglich. Schlüsselpolitik: Maximal drei Schlüssel, ein Schlüssel bei H.S., weil er um die Ecke wohnt. Wechselnde Regie mit VISIONEN, großgeschrieben, weil großgesagt und nicht nachgefragt. S. Ist unterstützend dabei, aber den Februar nicht viel in der Stadt. G. plant eine Totenmesse und kündigt Laufende Performance an. A. will einen Bauhaus Campus starten. D. macht eine Szene aus J.’s Film: Ein Zug verschwindet, Proben ab Montag (8/01/18 – 22/01/18). Ein Tag in der Woche wird für die Agententreffen reserviert. H.D. will monatliche Treffen für programmatische Texte einberufen. Ensemble Besprechung: jeden Mittwoch, 18.00 Uhr – 21.00 Uhr, dann Musik und Inhalte mit Live-Übertragung ins Netz, 09/01/18: Chorprobe & dienstags Stammtischbesuch (Gelder anfragen), 16/01/18: ebenfalls Chorprobe. 17/01/18: Geburtstag der Kunst, 1 Millionen Jahre Kunst. Das erste Ensembletreffen wird im Stehen um einen großen weißen Tisch auf Brusthöhe abgehalten. Möglichst pragmatisch wird eine Liste der folgenden Produktionen aufgesetzt. Alle, die wollen, werden in einem Zwei-Wochentakt hintereinander in diese Liste geschrieben, so wie es zeitlich für jeden gut passt. 
Es sollte 10 Monate brauchen, um diese Liste abzuarbeiten. Nur zwei der vermerkten Produktionen haben tatsächlich die geplante Zeit einhalten können. 
Ein länglicher Holztisch mit Schubladen und ein darauf platzierter, in großzügigem Kunstgold gerahmter, Spiegel in der zweiten Kammer (der spätere Kostümraum) machen nach meinem Verständnis den ersten Schritt in Richtung Theater möglich: den Maskenmoment. Dieser Moment, wenn die Zuschauer mit ihrem anschwellenden Geplänkel ihre Plätze einnehmen und die geisterhaften Schattengestalten in den Gängen umherhuschen, um das ein oder andere kaputte Kabel auszutauschen oder noch schnell dem Tonmischer am anderen Ende des Schiffs ein paar wichtige Keys durchgeben, in der Hoffnung, er möge uns alle über Wasser halten. Dieser Moment bleibt für mich immer der schönste, schöner noch als der Applaus oder das Spiel selbst. (Denn bist du einmal drin, spielt es sich von allein, dann schwimmst du, hechelnd, nach Luft ringend.) Sich aber bereit machen zum Ablegen, der Spagat zwischen der Bühne und den nichts ahnenden Fremden am anderen Ufer, dieser Moment ist für mich das Theater. 
Als nächstes erscheint eine erstaunliche Ansammlung von Sofas, deren vorangegangen Besitzer ihrer augenscheinlich überdrüssig waren. Sofas gab es jedenfalls immer genug. Die Straßen sind voll davon und was auf der Straße lungert, landet früher oder später auch bei uns. Sie bilden einen Halbkreis im hinteren Raum (der spätere Bühnenraum) und werden in einer umkämpften Stadt schnell zu einer Schlafkolonie für dahergelaufene Gefährten. Ich nenne dieses Moment die Schlafplatzfalle. Wenn man mich fragt, war die ständige Behausung, abgesehen von der fehlenden Garderobe, einer der grundlegenden Fehler dieses Theaters.
Zu dieser Zeit ist der Keller ein unbefangener Ort, dessen sich stetig erneuernde Prinzipien mit jedem Erstreiten, Mitsprechen, Aussprechen, Nichtsagen, Bestimmen, Zusammenzimmern, Anhäufen, Einweihen, Ausstellen, Bekritzeln, Ausmisten, erneutem Anhäufen, Planen, Zusammenstellen, Sortieren und Umstellen durch seine Besucher definiert werden. Von dem Kellerclub ausgelagerte, noch bestückte Barkühlschränke werden geknackt und ungeniert in Betrieb genommen. Ein weißer Klotz, wohl ehemals zur Präsentation etwaiger Kunstwerke gedacht, wird in einem der ersten Musikabende, die neben den Ensemble Treffen die eigentliche Basis zum angeheiterten Diskurs boten, unter kommentierenden Zurufen durch die musizierende Menge auf das Podest des hinteren Raumes getragen und vor den Kühlschränken platziert. Es bleibt nie Geld in der Kasse. Der Musikabend findet in dem Bühnenbild der aktuellen Produktion statt, was ihn selbst wie ein kleines Schauspiel wirken lässt. Irgendwas zwischen arabischer Folklore, sich in der Wiederholung steigernde Klavier Akkorde im Klang einer Hammond-Orgel und immer mindestens drei bis fünf Trommeln mischen sich zu einem ekstatischen Traum. Untermalt wird das Ganze von vorgetragenen Gedichten oder Lektüre, die mitgebracht wurde. Irgendwann wird H.S. seine ganze Bibliothek in den Keller umziehen, da er seine Wohnung verloren hat. J. bringt einen großen Teil ihres privaten Fundus mit, V. ersteigert eine 50-köpfige chinesische Maskensammlung, die bald die rosa gestrichenen Wände des Mädchenzimmers schmücken sollen. Es wird sich still und heimlich mehrmals am Abend umgezogen. Wer neu im Bunde ist, wird in das wohlriechende Kämmerlein gezerrt und für den Abend eingekleidet.
Aus Platzmangel setzen wir das Publikum vor eine Leinwand, während im Nebenraum live produziert wird. Im Durchgang zwischen den beiden Haupträumen wird auf der rechten Seite eine Verschwörungskammer im Stil einer Gummizelle und auf der linken Seite eine Teestube, auch genannt die Arabische Nacht. P. besorgt zusammen mit J. einheitliche Bestuhlung für das Publikum, 35 Stück, rote, schlichte Ledersitze aus dem Osten Berlins. G. schläft im Sarg. Das verflixte Bällebad ist schlecht aufzuräumen. Jeden Morgen sammeln wir die mit Kellerschmand beschmierten Kugeln ein, klauben die verletzlichen HDMI Kabel wieder zusammen. Alles sich im Bühnenraum befindliches Material wird mit Acrylfarbe beschmiert: Plötzlich steht überall Hure, auf der Tür zu den Toiletten Ekel und auf dem Klavier, wie am Eingang prangt die Karikatur einer Krone.
M. wird Vater. Die Hauptdarsteller nehmen regelmäßig Reißaus. Der Rausch nimmt überhand. R. feiert Polterabend. Es wird versucht, sich von den eingekehrten Dämonen zu verabschieden. Stattdessen Aufrechterhaltung der Phrasen: Scheinbare Anarchie bzw. Allzweckhierarchien durch soziale Gefüge begründet. Verabschiedung von A. nach Palästina. Ob er zurückkommen wird, weiß niemand. Theater aus Leidensdruck. Arbeit als Trost.
Der Winter ist vorbei. Seit geraumer Zeit habe ich jeden Tag an diesem Ort verbracht. Mit Spitzen versetzte Tüchlein schmücken einen Frühstückstisch im Hof. Madame Louis Rudek ist mit ihrer Tochter bei uns eingezogen, da ihre Wohnung abgebrannt ist. Kurze Zeit später fährt ein Auto in die Häuserfront ihres ehemaligen Wohnhauses. Waffeln mit Puderzucker sind die tägliche Mahlzeit. Frische Sommerluft wird durch die neu installierte Lüftung, getauft „Schubdüse“, in das verwinkelte Quartier gepumpt.
Die Musikabende wurden nun auf Samstag und in den Club nebenan verlegt, weil dieser unter chronischen Umsatzproblemen leidet. Wir müssen da drüben Performen. Müssen den Leuten etwas vormachen, weil sie wie gewohnt zu einer Show gekommen sind. Das ist heftiger als irgendwelche aufgeblasenen Kunstperformances, die langweilig sind, weil nur noch Konzept übriggeblieben ist. Das ist schlimmer als Vermarktung, weil ja gar nichts vermarktet werden soll. Wir machen eigentlich das, was wir immer machen – mit dem Unterschied, dass man uns dabei erwartungsvoll zusieht. Was wir da fabriziert haben, war ein Ritual, bei dem es nicht um das Ergebnis ging, sondern um das Un-Übereinklinkende. Ich bin dagegen, Rituale in den öffentlichen Raum zu verlagern. Ich geh’ jetzt rumhuren, sage ich zu C. J. Hat mir das Oberteil mit den Stachelnieten angezogen. Wenn du das Micro ganz dicht an deinen Mund hältst, klingt es immer sexy und man versteht kaum noch, was du sagst.
Diskurs muss gekonnt sein. Doch werden gängige Formen der Gruppenunterhaltung abgelehnt. Du musst dich durchsetzen, du musst erst einmal lernen, dir Gehör zu verschaffen, die ewigen Monologe zu unterbrechen. Wenn es hitziger wird, Argumente der Anderen zusammenfassend wiederholen, um dann darauf antworten zu können. Stumme nach ihrer Meinung fragen. Jeder wird zum Moderator. Ich konnte bei diesen Runden nie ruhig sitzen bleiben, man muss stehen, wenn man streitet. Streit muss sein. Es können aber nicht alle aufstehen und rumlaufen. Es ist dann so wie bei den Wölfen, die ihr Frischfleisch einkreisen. Oder du bist einfach nur der Tiger an der Bar. Wieder andere setzen sich von Grund auf nicht mit in den Kreis, sondern halten sich immer in der zweiten oder dritten Reihe. Ich kann mich an ein Treffen erinnern, an dem ein ferngesteuerter Gabelstapler über den grünen Teppich surrte und ständig irgendwo gegen gedallert ist. Dieses Rumgesteuer hat mich beruhigt. Im Laufe des Abends ist mir dann dieser bunte Staubwedel untergekommen, mit dem J.B. in Maschinenstürmer ganz am Anfang die Maschine reinigt. Meine klebrigen Hände haben sich daran festgehalten und konnten die wichtigen Punkte prima betonen. Ich bin trotzdem immer wieder aufgestanden, aber hab mich auch sofort wieder hingesetzt, das muss komisch zu beobachten gewesen sein. S. hatte mal eine Kette von einem Fahrradschloss, die er hat klimpern lassen. Auch eine gute Taktik. Bis sich besprochene Inhalte in Handlung umsetzen vergehen meistens ein paar weitere warme Worte unter vier Augen.
Ein selbstgebauter Pool im Hof bildet mit einer verschließbaren Öffnung zum Kellerfenster hin einen kontrollierten Wasserfall hinter den Stühlen der Zuschauer. Kühlkette – Landschaft mit Argonauten ist nach drei Produktionen das erste Stück, dass die Schauspieler von der Leinwand zurück vor das Publikum bringt. Der tiefer eingelassene Bereich bildet, mit Teichfolie ausgekleidet, ein Auffangbecken für die geplante Wasserattacke. Dieses Auskleiden einer 50 qm großen Plane stellt für mich noch heute das eigentliche Stück dar. Am Abend der Premiere stehen ungefähr acht Teilnehmer der Schose die noch zusammengefaltete Plane in regelmäßigen Abständen an den Seiten festhaltend mitten im Bühnenraum, ungefähr so wie man sich im Kindergarten mit oder minderer Begeisterung an den bunten Schwungtüchern festgeklammert hatte. Es wird überlegt, in welche Richtung am geschicktesten entfaltet werden soll. Ein paar weitere Kandidaten stehen beipflichtend daneben. Schlussendlich ist A. mit zwei Stunden Verspätung, nachdem er systematisch jegliche helfende Hand, wohlgemerkt zuerst die Frauen und anschließend auch jeden Anderen hinausgejagt hatte, immer noch dabei, die Leisten, darunter die Folie, in die dafür vorgesehenen Latten an der Wand zu jagen. Er schwitzt, er macht das gut, er macht es allein. Ein Schauerspiel in drei Akten. Er macht’s. Kurz bevor es losgeht, wird mir ganz bang. Nicht umsonst haben wir alle Kabel dreifach gesichert und doch hätte es unser letztes Stück gewesen sein können. Ganzes Theater samt dem Publikum kommt durch einen heftigen Stromschlag ums Leben. Das Wasser glänzt schwarz, spiegelt sich an den Wänden wider. Das Klima ist tropisch. Als Nonne verkleidet liege ich nach der Premiere in dem lauwarmen Wasserbecken. Als eine der drei Schwestern habe ich die Vergangenheit gespielt. Der Plastikstoff des Schwarzen Kostüms klebt verrutscht an meinen Oberschenkeln, ich habe vergessen, wo ich bin. 
Es steht schlecht um die Stadt, wir fühlen, dass etwas passiert, doch wir bleiben allzu fern in unseren Gemächern – Das WIR ist zu groß und zu stark geworden, man trennt sich von der sogenannten Transmedialität, der Hengst der Ahnungslosen führt den Ritt durch eine viel zu enge U-Bahn, ein Bühnenbild der Wiederholung, ein Tunnel ins Undefinierte. „So fing meine Karriere an!“, sagt A. und kackt eine Kunstwurst in unseren Innenhof. Die Übertragung stockt, es gibt Pixelwurst. Es kommen Leute dazu, die unsere Arbeitsweise nicht kennen. Es gibt Leute, die halten sich nicht erst im Hintergrund und schauen, was läuft. Wir fangen also von vorne an. Wir rennen. Wir klauen. Wir zerstören. Wir bauen. Der Teppich kommt raus. Im Hof verbrennen J.S. und H.S. das ganze Holz, alles was wir angehäuft haben, soviel es geht, wir müssen löschen, damit der Brand sich nicht ausbreitet. Wir zerschneiden die Leinwand mit einem Dolch und bitten das Publikum hindurch. 
Wir, Wir, Wir. Ich oder sie. Wir. Wir. Wir. Wir brauchen Urlaub. Wir sollten Luft holen und zurückschauen. Wer oder was hat uns da geritten? Viele haben verlernt Nein zu sagen. Gleichberechtigung heißt nicht gleich jeder hat Recht. Gleichberechtigung wurde falsch verstanden. Der geplante Urlaub wird ignoriert. D. zimmert das erste richtige Haus aus blutrot bemalten Latten auf die Bühne. Die Spiegelbar wird im Hof zerschmettert. „Ich will die Wohnung, Nein, Ich will die Wohnung, Ich will die Wohnung, Nein, Ich will die Wohnung“ lautet das Credo der improvisierten Aufführung, nachdem der Regisseur am Tag der Premiere gekündet hat. Es war nur eine Frage der Zeit bis D. das Haus mit dem Baseball Schläger bearbeitet. Es braucht ein paar anlaufende Hiebe, dann ein paar schnelle, harte, entfesselte Schläge und die erste Latte bricht. 
Karlschlag, eine der letzten Produktionen, braucht für seine Erzählung ein Produktionsbüro: Auf dem Podest wird der angrenzende Raum durch eine Wand aus Plastikscheiben getrennt. Die restlichen Wände innerhalb dieser Bühne werden hellgrün tapeziert. Das Produktionsbüro ist nicht zu unterschätzen. In dem Produktionsbüro kann man sehr gute Gespräche führen, das heißt, man läuft rum und raucht und bleibt an der Glasvitrine stehen, zieht an seiner Zigarette und wirft sich ernste Blicke zu, läuft weiter im Raum herum. Es fehlt nur der Whisky oder so. An anderen Tagen sitzt man reihum vor dem mit Asche verrußten Tisch, die Lampe brennt kalt ohne Schirm, so führt man dann eher bedrückende, bedeutungsvoll anmutende Gespräche. Diese Bühne wird zumindest für eine Zeit zur Wirklichkeit. Ich fange an, zu funktionieren. Ich bin ein Soldat, ich verkrieche mich in mein Handwerk und gehöre nunmehr dem Rausch der Bilder. 
Deutschland ohne Herbst ist eine Reaktion auf das einzuholende Versäumnis, Widerstand zu leisten. 10 Regisseurinnen, 11 Räume und eine Leinwand. Ein formales und soziales Experiment. Im Keller produziert, soll das Stück live auf die Häuserfronten der Stadt übertragen werden. Wenn Dystopien unsere Kinos verseuchen, Freiheit nur noch als Lehnstuhl-Nostalgie zu konsumieren ist und der Code überhandnimmt:
„Perfekte Kommunikation kommuniziert nichts. Es gibt keinen Grund mehr zu sprechen und somit auch keinen Grund mehr zu denken“ – Gilles Châtelet.
Wir sind nervös, wir wollen keine Interpretation, wir suchen Streit. Mitte August schreibt J. einen Aufruf in die Runde:
Hallo ihr Scheisser! Hier mal das Konzept und der Aufruf für D im Herbst. DEUTSCHLAND OHNE HERBST – Wer traut sich? Termin: 25/9/ – 25/10/2018 Es geht um eine totale Bespielung unserer Räumlichkeiten und eine totale Beanspruchung unserer Ressourcen, aber nicht für die reine Vision eines Genies, sondern für die kruden und chaosnahen Monstren, die nur aus der Verschränkung und Offenlegung unser aller Phantasmen geboren werden können. Wir holen die Freiheitsstatue in den Keller! Wir bauen so viele Räume wie es Leute unter uns gibt, die so hinterhältig versaut sind und sich trauen ihre kleinen Schweinereien in Szene zu setzen. Daraus entsteht ein Filmstück, d.h. die Form ist mehr oder weniger durch die Liveübertragung per Kamera gesetzt (wer wird sich dagegen auflehnen?!). Sonst gibt es keine Regeln außer eben den Regeln. Du sollst nicht langweilen! Wer den Arbeitsprozess erheblich stört, fliegt raus. Nach einer Eröffnungsrunde der Vereinzelung und Isolation, in der jeder in seinem Raum probt, gibt es eine Phase, in der wir uns gegenseitig zeigen, was wir da gemauschelt haben, und schließlich bauen wir alles zusammen, schaffen Verschränkungen, legen Parallelen, lassen Jesus Chaos Christus ran. Es kann ein Marathon werden, eine Expedition ins Malariagebiet. Dazu müssen wir unser Ego an den entsprechenden Stellen hervorholen und verteidigen und an den komplementären einstecken und verdammt nochmal anfangen zu sehen und zu hören! Also bitte, macht keine Kammerspiele, Szenenproben, Etüden oder Schaustückchen oder sowas! Das Ding wird nur geil, wenn jeder Raum seinen eigenen Wahnsinn auslebt. 
Gezeichnet J. G.
Ganz lange Zeit passiert nichts. J. baut kurzerhand den ersten Raum auf die Bühne, ich nenne ihn die Dominabude, da die Wände über und über mit der schwarzen Teichfolie ausgekleidet sind, die von der Bewässerung in Kühlkette übriggeblieben ist. Eigentlich beschreibt der Raum, einen Ort, in dem Teile aus Christoph Reinhardts Etage gespielt werden sollen, also ein Wahllokal. Hinzu stoßen zwei Raumschiffe, ein Liquor Store in der Wüste, ein Käfig, – das Klo wird komplett weiß gestrichen und auch als Spielort benutzt, ein Miniaturkino, an dessen Außenseite das Eisenwaren International-Schild prangt, die Insel der Glückseligen, ein mit Zeitungen bespickter Raum und zu guter Letzt ein Brett zwischen zwei Häuserfronten, man könnte auch von einem zweiten Stockwerk sprechen. In die Verschwörungszentrale kommt die Schnittstation. 
09/10/18: H. rennt schon beim Aufbau rum und flüstert mir in die Verschwörungszentrale, dass er alles dafür tun wird, dass keiner für mich stimmt (die nächste Produktion betreffend) – Das ist zwar Hetze, aber irgendwie nicht ganz so ernst zu nehmen. Dann, am Abend der Premiere: Ich bekomme das ganze Material von dir, sagt er. Ich sage nichts. Drehe mich um, weil ich mich auf nichts einlasse. Er fasst mich an. Ich mache einen Schritt, um zu gehen. H. tritt mir in die Ferse und sagt: Du bleibst stehen. Ich bleibe stehen und sage ihm: Ich spreche so nicht darüber, du bekommst nichts von mir. Und will gehen, er mir hinterher, in der Dominabude sitzen C. und drei andere, ich bleibe stehen und sage, ich habe hier ein Problem, ich werde getreten, H. sagt übertreib nicht, war doch aus Versehen. Ich sage, das war mein letztes Wort, ich lasse mich auf den Dreck nicht ein, du bist ab jetzt nicht mehr da für mich. Ich gehe zurück durch den Flur, H. brüllt mir hinterher, du warst noch nie da für mich. Ich: ja genau. Ich entscheide, den Ort zu verlassen. In der Bibliothek der Arcaden komme ich beim Anblick der Dächer zur Ruhe. Die Ziegel erinnern an eine Zeit, die nicht unsere ist, sie sind ein Zeichen der Zivilisation, ohne für eine bestimmte Kultur zu sprechen, sie sind nur ein sehr bewährtes Mittel zum Zweck, ein Mittel, das überlebt hat. Ich wundere mich, warum ich zum ersten Mal diesen Ort der Zuflucht aufgesucht habe. Es wird ein Ort sein, der mir helfen könnte, wieder zu meiner Phantasie zu gelangen. 
Mit neuem Mut laufe ich die Karl-Marx-Straße zurück Richtung Keller. Blaue Stunde. Sie warten in dieser Nische, wo man tagsüber manchmal bei offener Tür in die Putzkammer der Arkaden schmulen und der ein oder anderen Zigarettenpause beiwohnen kann. Blickdichte, mit grauem Stahl umrandete Glasscheiben, Tür und Fenster sind an dieser Stelle nicht voneinander zu unterscheiden. Geh da jetzt nicht runter, Hannah, sagt C zu mir. H. hat eine Waffe, sagt er. Ich nicke. Du weißt davon?, fragt er. Ich schüttle den Kopf. Ich kanns mir denken. Ich bin nicht geschockt. Ich bin müde. Wir sagen die Veranstaltung ab. Es ist das erste Mal, dass wir nicht spielen. Selbst ohne zwei der Hauptdarsteller haben wir schon aufgeführt. Aber unter Polizeischutz gibt es sowas wie Theater nicht. Am Abend geht es im Broschek weiter. H.s ältester Bruder stellt uns zur Rede. Er will wissen, ob wir den Bullen einen Namen genannt haben. Ich spare mir weitere Details. Nun zu L.s Plan, echte Waffengewalt in der Weltöffentlichkeit zeigen zu wollen und zu diesem Zweck H. anzustacheln, es für sie umzusetzen – abgesehen davon, dass der Diskurs so dermaßen veraltet ist: Wenn man nur Theater machen kann, indem man reelle Gefahr erschafft, eine Situation, die alle Beteiligten unwissend benutzt und ihrer Freiheit beraubt, entscheiden zu können, ob sie Teil einer Inszenierung sein wollen, oder nicht, die sie in einer Extremsituation entblößt, bzw. die immer gleiche Schwäche gegenüber dem angedrohten Tod zeigt, dann sollte man sich die Frage stellen, wozu Theater in der Lage ist, bzw. wie mächtig der Vorwand Theater machen zu wollen, sein kann. Innerhalb des Theaters und mit der Form des Theaters lässt sich das Theater selbst zerschlagen, indem Menschen schutzlos und sensibel auf der Bühne ausgeliefert nicht mehr als volle Menschen behandelt werden, das heißt nicht in das Geschehen eingeweiht sind. Dann sind sie nur Nutzen und beliebig ersetzbar, weil jeder Mensch dem Tod unterworfen ist. Eine Aussage, die es nicht Wert sein sollte, das Theater als Mittel zu benutzen, das Leben zu beherrschen (und nicht den Tod). Das Theater wird auf diese Art und Weise unfruchtbar gemacht, weil die einzelnen Komponenten (die einzelnen Menschen) entkräftet werden. Theater ist Vertrauen, Theater ist Verantwortung. Im Spiel bin ich erst Mensch und deswegen kann ich auch im Spiel mein Menschsein so viel mehr zerstören (lassen).
Es kehrt Ruhe ein. Die Ensembletreffen laufen hervorragend. T. schlägt bei einem Spaziergang durch den vereisten Tiergarten vor, anstatt immerzu zu reden, jeden Mittwoch aufzuräumen. Wir suchen nach einem Namen für das Neugeborene von M.: Pamela ist ganz groß im Rennen. Dann kommt S. mit der Nachricht: Die alte Ernst Busch Schule für Schauspielkunst soll abgerissen werden. Die politische Situation ist unklar. Die SPD will ein Studentenwohnheim, die Linke eine Kulturelle Nutzung. Eine alte Idee von J. S. und mir wird wieder aufgewärmt. Damals ging es um die Frage, wie wir einem Publikum, dass irgendwo in der Stadt vor einem Leinwandwagen sitzt, erzählen, dass das Spiel, was sie sehen, im gleichen Moment woanders produziert wird. Die Antwort war: Nein, keine Tageszeitung, kein Uhrenvergleich, wir bewegen uns während der Produktion zum Publikum, bis wir mitten in der Stadt vor der Leinwand stehen und eine unendliche Spiegelung entsteht, wie man sie aus der Videokunst der Achtziger kennt. Nur haben wir die Idee für die Ernst Busch ein wenig umgedreht. Wir haben das Publikum zurückgelassen und uns auf den Weg in die Stadt gemacht. Der Stadtraum ist nicht nett. Der Stadtraum ist keine Bühne. Du bist ausgeliefert, wie ein Wildschwein auf freiem Feld. 
Der schönste Streich an der ganzen Nummer um den Ernst Busch-Rummel – auch bekannt unter dem Namen Aufstand der Huren – war wohl die Idee des Konfliktfreien Theaters. Also, was machen wir eigentlich – wenn alles gut ist? Stellt euch vor, wir haben diesen riesigen Schulkomplex für uns alleine, wir sind da – und alles ist gut. Niemand will uns den Platz streitig machen. Also das Tolle an diesem kuscheligen Alles-ist-gut-Gejammer ist der Umstand, dass wir eine Spielweise erdenken mussten, die uns erlaubte, den Diskurs nicht über den Subtext zu spielen oder ihn hinter Ironie, Elend oder Glück zu verbergen, sondern an der bloßen Überraschung über die Worte merkbar werden zu lassen. Endlich konnten wir etwas wirklich meinen. Das ist gar nicht einfach. Spiel mal, das du meinst.
„Die große alte neue Volksbühne ruft euch, sie ruft nur heute, nur ein mal. Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer!“, fängt A.C. mit seinem Text an, die Jungs sammeln sich Instrumente zusammen und stimmen sich ein. Regie: „Ein Moment, ein Moment! Leute, ich glaube es reicht, wenn wir nur das Klavier haben und ihr alle singt gemeinsam, das ist viel schöner, das ist schöner, als wenn wir hier schon wieder sone Jam Session haben. – Also ihr müsst euch alle ans Mikrofon, dass wir sonen richtigen Knabenchor hier haben. – Der Nebel verzieht sich, die Boyband erscheint, ihr fangt an zu singen. Und irgendwann kommt A. mit dem Eisenwaren International Schild. Immer, wenn er es anschaut leuchtet es rot und dann fängt er an zu proklamieren, ja.“ 
Heute ist Müll nicht mehr zu unterscheiden vom Bühnenbild, der Sumpf hat es bis in die Imagination geschafft. Man ist beengt. Die Stadt zwingt fast zur Kriminalität. Die Stadt ist kriminell. Selbst das letzte Kellerloch wird ausgeschlachtet. Eines steht fest, es gibt dort unten einen Haufen krakeelender Missetäter, denen man gefälligst zuhören sollte. – Ich gebe nicht auf. Den Keller zu verlassen bedeutet diese lüsterne Bande in den nächsten Schritt zu übersetzen. Der NIE BETRIEB.
Streichle das Blatt / küsse den Hund / tröste das Holz / hüte den Mund / zähme den Kamm / reime die Lust / schmücke den Schlaf / plätte den Frust / neige das Glas / wiege das Buch / liebe die Luft / rette das Tuch / schaue das Meer / rieche das Gras / kränke kein Kind / iss keinen Fraß / lerne im Traum / schreibe was ist / nähre den Tag / forme die Frist / lenke die Hand / eile und steh / zögere nicht / weile wie Schnee / öffne die Tür / lade wen ein / schenke dich hin / mache dich fein / prüfe dein Herz / geh übers Feld / ruhe dich aus / rühr an die Welt
Ilma Rakusa: Gedicht gegen die Angst

You may also like

Back to Top